San Sperate – Wandeln im Museumsdorf

Ein Ort, der sich stolz „Paese Museo“ (Museumsdorf) nennt – das ist San Sperate, etwa 20 Kilometer nordwestlich von Cagliari, Sardiniens Hauptstadt an der Südspitze.

Auf Schritt und Tritt begegnet dem Besucher Kunst: vom kleinen Bild an der Hausecke bis zum hausfassadengroßen Gemälde, als Skulptur oder dreidimensionale Darstellung, Foto oder einfach nur künstlerische Verschönerung eines Hauseingangs oder einer Mauer.

Es sollen um die 300 Werke sein, die das 8.500-Seelen-Städtchen zieren. Sie gehören zum Alltagsbild wie die kleine Kaffeebar an der Hausecke oder der Gemüseladen zwei Häuser weiter. Niemand scheint sie so richtig zu beachten oder gar zu pflegen. Die Kunstwerke sind zugeparkt, sie sind verblasst oder der Putz, auf den sie gemalt wurden, bröckelt ab. Ganz normal. Was den Kunstliebhaber entsetzen könnte, wird in San Sperate wahrscheinlich mit Achselzucken kommentiert.

Und genau das macht das Ganze sympathisch.

Die Idee für diese Form der Straßenkunst geht auf Pinuccio Sciola (1942-2016) zurück, der mit seinen „Klangsteinen“ zu Weltruhm gelangte (vgl. dazu den Beitrag „Wo Steine wie das Universum klingen“ in diesem Blog). Er war in der Zeit seiner „Wanderjahre“ in Mexiko zum Anhänger des sogenannten „Muralismo“ geworden und malte Ende der 1960-Jahre seine ersten politischen Murales an die Wände seines Heimatortes, ganz im Geiste der Zeit. Und er initiierte mit viel Überzeugungsarbeit die anderen Bewohner von San Sperate, es ihm gleichzutun. Weitere Orte wie beispielsweise Urzulei oder Orgosolo, das als Zentrum der Murales gilt, haben sich ein Beispiel daran genommen.

Nicht alles ist gut gelungen, nicht alles ist Kunst mit Anspruch, und beileibe nicht alles hat überlebt. Aber wie man hört, hat San Sperate in den letzten Jahren (wieder?) diverse Künstler anlocken können, die den öffentlich Raum gestalten.

Aber jeden Fall bereitet es große Freude, durch die Gassen zu stromern und nach den Werken Ausschau zu halten. Sieh mal hier … Hast du das schon gesehen?

Und manchmal muss man Hindernisse überwinden, um freie Sicht auf die Kunst zu bekommen 😉.

Wir haben bei unserem Streifzug schon einiges zusammengetragen.

Es ist nicht leicht, eine Ordnung in das Gesehene zu bringen. Denn genau das unterscheidet ja eine Kunstgalerie oder ein Museum vom Museumsdorf San Sperate. Man kann die Werke nicht einfach unter einem bestimmten Aspekt zusammenstellen. Sie sind eben, wo sie sind und der Betrachter schlendert durch die Straßen und lässt sich inspirieren. Ein bisschen so, wie die Biene herumfliegt und hier und da Nektar saugt. Ihre Flugbahn lässt sich nicht im Vorhinein bestimmen. Darauf kommt es ja auch nicht an – der Nektar ist das Wesentliche.

Versuchen wir uns dennoch an einer Kategorisierung 😉:

(historische) LANDSCHAFTS- und ALLTAGSSZENEN, zum Teil täuschend echt

DREIDIMENSIONALE DARSTELLUNGEN

CARTOON-ART

MODERNE KUNST

TROMP-L’ŒIL

HAUSVERSCHÖNERUNG

SCHWARZ-WEISS-FOTOS

SKURRILES

Wir sind eine katholische Familie und bitten Zeugen Jehovas, nicht bei uns zu klingeln.
Werkzeugwand
Street-Dictionary
Streetart-Jäger bei Regen

Streetart im Bergdorf – Urzulei

Urzulei ist ein eher verschlafenes Bergdorf im Supramonte am Rande der Barbagia. Einer Landschaft, die bei Wanderern beliebt ist. Und bei Motorradfahrern, die die Serpentinen-Fahrten auf der SS 125 schätzen.

Im 1.300-Seelen-Dorf Urzulei hält kaum jemand an. Wer etwas essen oder trinken möchte, landet unweigerlich in der Pizzeria des Ortes. Dort finden auch wir uns an einem warmen Septembertag 2025 zur Mittagszeit ein. Denn für uns ist Cappuccino-Zeit. An zwei Tischen sitzen Männer, alt und jung, eifrig ins Gespräch vertieft, rauchend, hin und wieder am Wein- oder Bierglas nippend. Einige von ihnen scheinen ihre Mittagspause hier abzuhalten, andere sind wohl eher Rentner. Draußen ein alter, verbeulter und zerkratzter Pick-Up. Die Männer nehmen kaum Notiz von uns, erwidern aber unser „Buongiorno“.

Von unserem Platz aus fällt unser Blick sogleich auf ein Wandgemälde – zwei alte Männer, traditionell gekleidet, im innigen Austausch miteinander, einer berührt das Gesicht des anderen.

Deswegen sind wir hier, wegen der sogenannten „Murales“. In Urzulei gibt es etwa fünfzehn davon. Wir schlendern suchend durch die Straßen, entdecken hier ein Porträt, dort eine Szene. Die Werke folgen einem Konzept: Sie sind großformatige Gemälde auf Hauswänden, die auf Schwarzweiß-Fotos basieren. Die Künstler hatten den Auftrag, die Fotografien zu kopieren, ohne künstlerische Interpretation. Daher hat man beim Betrachten der Murales ein wenig das Gefühl, in einem Album mit alten Postkarten zu blättern.

Es geht um Alltagsszenen einer längst vergangenen Zeit, die ihre Spuren im Heute hinterlassen hat. Es geht um das Bewahren einer kulturellen Identität im Smartphone-Zeitalter. Urzulei ist wohl ein Bergdorf, wie man es auch sonstwo in den abgelegenen Gebieten der Insel findet. Aber es ist gleichzeitig eine Art Freilichtmuseum.

Dieses große Wandgemälde stellt ein weit über Sardinien hinaus bekanntes Spiel dar: Sa Murra. Dabei gewinnt, wer beim gleichzeitigen Ausspreizen der Finger die richtige Anzahl errät.

Beim Schlendern durch die Gassen von Urzulei fällt die Gleichzeitigkeit von Verfall und Modernität ins Auge. Manche Häuser sind mit Sorgfalt hergerichtet, andere gleichen eher primitiven Behausungen.

PS: Viele der Vorlagen für die Murales von Urzulei stammen von Ugo Pellis, der ebenfalls auf einer Wand verewigt ist.

Pellis (1883-1943) war ein italienischer Romanist, Dialektologe und Fotograf.