Casablanca und die Königsstädte

Gibraltar ist nicht, wie oft vermutet, der südlichste Punkt von Kontinentaleuropa, sondern das südwestlich davon liegende Tarifa, etwa 45 km entfernt. Von Tarifa aus kann man bei gutem Wetter die marokkanische Hafenstadt Tanger und auch das Rif-Gebirge erkennen. Die Meerenge von Gibraltar ist an dieser Stelle nur 13,5 km breit.
Es ist also quasi nur ein Katzensprung von Europa nach Afrika. Dennoch liegen Welten dazwischen. Hier das Abendland mit christlicher Tradition, dort die arabisch-muslimische Kultur, wo zum Teil vollkommen andere Regeln und Rituale den Alltag bestimmen. Hier die Staatsform der Demokratie, dort eine Monarchie, in der der König mit seiner Familie alle wichtigen Fäden in der Hand hält, Staatsoberhaupt und religiöser Führer in einer Person.
Marokko ist ein Land der krassen Gegensätze, mit einem halben Dutzend Millionenstädten, die sich in vielerlei Hinsicht nicht großartig vom westlichen Metropolen unterscheiden, und einem Hinterland, das in manchen Gegenden mittelalterlich anmutet.

Wir wollten dieses Land im Oktober 2014 mit dem Mietwagen auf eigene Faust erkunden. Wir folgten dabei einer vorher festgelegten Route, die Übernachtungen waren vorab gebucht – was sich auch als durchaus sinnvoll erwies; denn insbesondere in ländlichen Regionen findet sich nicht so einfach „spontan“ eine Unterkunft, und Nachtfahrten sollte man tunlichst vermeiden.

Unser Startpunkt Casablanca hat für uns von vornherein einen gewissen Klang – kommt uns doch sogleich der Filmklassiker mit Humprey Bogart („Rick“) und Ingrid Bergman („Ilsa“) aus dem Jahr 1942 in den Sinn: Schau mir in die Augen, Kleines … Zwar gibt es in Casablanca eine freie Nachbildung von „Rick’s Café Américain“, aber die macht die 6-Millionen-Stadt auch nicht so richtig attraktiv. Casablanca gilt als Stadt der sozialen Missstände und der vierspurigen Straßen, die mitten durchs Zentrum laufen. Wir haben hier daher nur eine Nacht verbracht, unser Auto in Empfang genommen und uns vor der Weiterreise DIE überragende Sehenswürdigkeit Casablancas angeschaut, die Moschee Hassan II. Sie gehört zu den größten Moscheen der Welt und verfügt über das zweithöchste Minarett. Sie wurde anlässlich des 60. Geburtstags des damaligen Königs Hassan II. (des Vaters des heutigen Regenten Mohammed VI.) erstellt und 1993 eingeweiht. Es heißt, an diesem Bauwerk hätten 2.500 Arbeiter und 10.000 Handwerker sechs Jahre lang gebaut. Die Gebetshalle bietet Platz für 25.000 Gläubige, auf einer Gebetsplattform im Außenbereich können sich 80.000 Menschen einfinden. Das Dach des Hauptgebäudes lässt sich öffnen, nachts strahlt ein grüner Laserstrahl in Richtung Mekka.
Die Hassan-II-Moschee ist das einzige islamische Gebetshaus in Marokko, das von Nichtmuslimen betreten werden darf. Sie ist ein Bau der Superlative und hat uns diesem Sinne durchaus beeindruckt. Aus weltlicher Sicht sei allerdings die Frage erlaubt, ob nicht angesichts der phänomenalen Kosten dieses Prachtbaus eine anderweitige Verwendung der Mittel – beispielsweise für soziale Zwecke – für das marokkanische Volk einen größeren Nutzen gehabt hätte.
Freilich ließe sich eine ähnliche Argumentation ebenso für zahlreiche historische wie auch moderne Protzbauten auf der Welt anführen, die wir uns gerne anschauen und in Bild und Text festhalten …

Knapp 100 km nordöstlich von Casablanca, ebenfalls direkt an der Küste, liegt Rabat, die Hauptstadt Marokkos und die erste Königsstadt von insgesamt vier auf unserer Rundreise. Kern dieser geschichtsträchtigen Kulturstadt ist die Medina (Altstadt), an der Mündung des Flusses Bou Regreg gelegen. Sie ist hauptsächlich in blauen und weißen Farben gehalten und lädt zum Schlendern und Fotografieren ein. Andalusien lässt grüßen! Der Basar bietet neben allerlei Souvenirs für die nicht allzu zahlreichen Touristen alles, was der marokkanische Haushalt braucht, von frischem Obst bis zur Teekanne.

Flussseitig im Norden die Medina abgrenzend liegt die riesige Festungsanlage Kasbah des Oudaias. Sie wurde im 12. Jahrhundert als Wehrburg errichtet – von ihren Mauern hat man einen fantastischen Blick auf die Flussmündung, das Meer und auf die Rabat gegenüberliegende Stadt Salé.

Marokko bietet eine besondere Übernachtungsmöglichkeit, die Riads. Ein Riad ist ein traditionelles marokkanisches Haus mit einem lichten Innenhof und vielen Gartenelementen. Früher waren Riads Residenzen von Honoratioren oder wohlhabenden Kaufleuten. Heutzutage fungieren sie in der Regel als Hotels bzw. Gästehäuser. Normalerweise liegen sie mitten in der Medina und sind daher nur zu Fuß durch enge Gassen zu erreichen. Riads sind Oasen der Ruhe und ein wunderbarer Gegenpol zur hektischen Betriebsamkeit der Medinas. Unsere erste Riad-Übernachtung (im Riad Kalaa in Rabat) hat uns sofort von diesem Konzept überzeugt!

Von Rabat nach Fes sind es circa 235 km,. Nach Lektüre unseres Reiseführers beschlossen wir, der kleinsten der Königsstädte, Meknes, an der man kurz vor Fes vorbeikommt, keinen Besuch abzustatten und uns stattdessen auf Fes zu konzentrieren. Damit hatten wir Zeit für ein paar Zwischenstopps, die sich durchaus gelohnt haben.

Nach einem ausgiebigen Frühstück im Riad „Lune et Soleil“ waren wir für unsere Fes-Stadterkundung bereit. Ein typisches Frühstück à la marocaine besteht aus einem „café nous-nous“ (halb Kaffee, halb Milch), Pfannkuchen, frisch gepressten Fruchtsäften, Joghurt, Spiegel- oder Rühreiern, Brot und süßem Aufstrich. Das hält eine Weile vor :-).

Fes, 1 Million Einwohner und Hauptstadt bis1912, gilt sowohl als eine der schönsten Städte als auch als DAS Zentrum des Islam und islamischer Kultur in Marokko. Es ist reich an Kunstschätzen und Kulturstätten und hat mit der 860 gegründeten Kairaouine eine der ältesten Universitäten der Welt. Die mittelalterliche Medina, Fès el Bali, hat den Ruf eines „Juwels der arabisch-muslimischen Zivilisation“. Hier kann man sich wunderbar treiben lassen – und im Labyrinth der Gassen auch leicht verirren. Und wenn man die Orientierung verloren hat, fragt man sich am besten zum nächsten Stadttor durch und taucht erneut in das Gedränge ein. Das bekannteste Tor (und Wahrzeichen der Stadt) ist das Bab Boujeloud, das im 13. Jahrhundert errichtet wurde. Es hat auf der einen Seite blaue, auf der anderen grüne Fliesen. Von hier führen die parallel verlaufenden Hauptachsen der Medina an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorbei.

Hier ein paar Eindrücke aus dem bunten Treiben in den Souks, die vor allem von Händler- und Handwerkergassen (Kupferschmiede, Ziseliere, Schneider, Lederwarenhersteller usw.) geprägt sind.

In den verwinkelten Gassen der Altstadt sind Esel und Maultiere wie in alten Zeiten die optimalen Lasttiere. Sie schleppen alles herbei, was hier gebraucht wird. Und natürlich der Mensch selbst, der hier beispielsweise mit dem kostbarem Gut Wasser unterwegs ist.

Unweit vom Bab Bouleloud befindet sich ein Schmuckstück arabischer Architektur, die Medersa Bou Inania. Die Koranschule wurde um 1450 gebaut und zählt mit ihren Kachelmosaiken, filigranen Inschriftenfriesen und Gipsstrukturen und zu den prächtigsten Sakralbauten aus dem Mittelalter. Der Innenhof ist mit Carrara-Marmor ausgelegt. Die handwerkliche Kunst in derartigen Gebäuden ist nicht gegenständlich, weil die Darstellung von Menschen, Tieren oder gar des Propheten oder Gottes im Islam verboten ist.

Ein besonderes Erlebnis und ein Muss bei einem Fes-Besuch ist das Gerber-Viertel. Von den Panoramaterrassen der Lederwarenhändler gewinnt man einen Eindruck von diesem Handwerk, das – so scheint es zumindest – noch wie vor Hunderten von Jahren betrieben wird. Hier werden in geradezu archaischer Art die Tierhäute vom restlichen Fleisch getrennt und in unzähligen Bottichen den unterschiedlichen Phasen des Gerbprozesses unterworfen. Die hier arbeitenden Männer steht zum Teil hüfthoch in den gemauerten Behältnissen, die im Gesamtarrangement wie ein gigantischer Malkasten wirken. Gesund kann diese Form der Maloche nicht sein … Aber für den westlichen Besucher auf jeden Fall spektakulär – nicht nur visuell, sondern auch wegen des infernalischen Gestanks.
Im Gerberviertel von Fes wird vor allem Schaf-, Ziegen- und Rindsleder verarbeitet, selten auch das kostbare Kamelleder.

Am Ende eines solchen Tages voller außergewöhnlicher Eindrücke zieht man sich gerne in sein Riad zurück, um den Tag bei einem guten Essen Revue passieren zu lassen. Das „klassische“ marokkanische (bzw. nordafrikanische) Gericht ist Tajine. Als „Tajine“ bezeichnet man sowohl das geschmorte Gericht selber wie auch das Kochgeschirr, in dem es zubereitet wird. Das aus Lehm gebrannte Schmorgefäß hat eine runde flache Form mit einem konischen Deckel und einem Loch oben. Was da alles unter dem Deckel gegart wird, ist wohl nur durch die menschliche Fantasie begrenzt, denn es gibt hunderte von Rezepten: mit Fisch oder Fleisch oder vegetarisch, mit unterschiedlichsten Gemüsesorten, mit/ohne Backpflaumen oder Oliven … In Marokko wird übrigens normalerweise beim Essen nicht geredet, der Genießer schweigt. Die Konversation wird erst nach dem Essen wieder eröffnet. An diese Regel haben wir uns in trauter Zweisamkeit natürlich nicht gehalten, schließlich gab es viel zu erzählen.

Die Teezeremonie (Pfefferminztee: thé à la menthe) dagegen ist ein sozialer Akt, bei dem eifrig palavert werden darf. Dabei wird frische Minze in eine silberne Kanne gesteckt, oft zusammen mit grünem Tee, und mit heißem Wasser aufgegossen. Sodann wird das Gebräu aus großem Abstand in auf einem Silbertablett platzierte Teegläser gegossen und mit reichlich (!) Zucker gesüßt.

Auch in Marrakesch, der vierten Königsstadt, waren wir mitten in der Medina untergebracht, so dass wir die meisten Sehenswürdigkeiten zu Fuß erreichen konnten. Die „Perle des Südens“ hat unter den Königsstädten am ehesten den Charakter einer Metropole. Offiziell hat sie etwa eine Million Einwohner, inoffiziell geht man von bis zu vier Millionen aus, die hier irgendwie ein Auskommen suchen. Marrakesch ist hektisch und ein echter Touristenmagnet, mit allen Schattenseiten. Auch die „rote Stadt“ (wegen der vielen in Rot-, Rosa- und Ockertönen gehaltenen Häuser) hat schöne Stadttore, beeindruckende Gebäude, Kunst- und Kulturstätten und wuselige Souks. Aber das Highlight schlechthin ist der Djemaa el Fna, der Platz der Geköpften bzw. Gehenkten, der als „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes des Menschheit“ unter dem Schutz der UNESCO steht. Man kann sich der besonderen Faszination dieses Platzes, der gleichermaßen Marokkaner wie ausländische Besucher in seinen Bann schlägt, kaum entziehen. Je nach Tageszeit dominieren unterschiedliche Aktivitäten in diesem Schmelztiegel, der arabische, berberische und schwarzafrikanische Traditionen vereint. Man sieht Schlangenbeschwörer, Wunderheiler und Quacksalber, Feuerschlucker, Akrobaten, Wahrsager, Geschichtenerzähler, Musikanten, Krämer … Und alle buhlen um die Gunst der Flaneure, manche eher verhalten, andere fast aggressiv. Mit Eintritt der Abenddämmerung bestimmen Essensstände und Garküchen das Bild, dann ziehen dichte Aroma- und Rauchschwaden über den Platz.
Das beliebteste Café ist das legendäre Café de France. Wer hier einen Platz auf der Dachterrasse ergattert, kann in aller Ruhe von oben das emsige Treiben auf dem Platz beobachten.

Und nach dem Essen auf dem Djemaa el Fna? Ausruhen im Riad, ist doch klar :-).

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